Zeitungsartikel vom 12. Juli 1997 im Freien Wort, Suhl:

Ahnengalerie in der Praxis weckt bei Ur-Suhlern Erinnerungen

Seit acht Generationen gibt es in einer Suhler Familie Ärzte, allesamt Chirurgen

Suhl. Unlängst kam ein Mann in die Praxis von Dr. med. Rainer Rockenstein und sagte, er sei kein Patient, er wolle sich nur einmal die kleine "Ahnengalerie" im Wartezimmer anschauen.

Diese zeigt beziehungsweise benennt acht Suhler Ärzte, die allesamt aus einer Familie stammen. Dr. med. Rainer Rockenstein ist nicht nur Mediziner in achter Generation, sondern setzt als Chirurg auch die ununterbrochen währende Spezialisierungsrichtung seiner Vorfahren fort.
Bezug nehmend auf den auf der Heimatgeschichtsseite in Freies Wort erschienenen Beitrag "Chirurgus Jung zückte der Liebe wegen sein scharfes Skalpell" hatte der Suhler Arzt unserer Redaktion mitgeteilt, daß die Familientradition über das beschriebene Ereignis hinaus sogar noch weiter zurückreicht. Es lägen fast lückenlose Überlieferungen vor, die das Nachvollziehen leicht machten.
Dr. med. Rainer Rockenstein erzählt: "Beschrieben in dem besagten Beitrag wurde ja eine Begebenheit von 1788, als Dr. Jung einem Mann den Kropf operierte. Es handelte sich dabei um Dr. Johann-Christoph Jung, der um 1788 in Suhl als Praktischer Arzt und Chirurg tätig war. Er war der Sohn des Jeremias Jung, der bereits eine Generation zuvor die Bevölkerung von Suhl und Zella-Mehlis einschließlich der umliegenden Ortschaften ärztlich versorgte."
Der Name Dr. Jung habe sich vier Generationen lang gehalten, da jeweils der Sohn die Praxis des Vaters übernommen hatte. Nach dem Tode des Vaters Jeremias Christian Jung trat der spätere Sanitätsrat Dr. med. Robert Jung in die Praxis ein und war damals alleiniger Arzt in Suhl. Die Mediziner jener Zeit hatten alle eine chirurgische Ausbildung, und so war es sein ganzes Bestreben, in Suhl ein Krankenhaus zu schaffen, um dem dringenden Bedürfnis einer besseren ärztlichen Betreuung gerecht zu werden. In der Familienchronik heißt es dazu, daß Dr. med. Robert Jung und seine Frau Wohltätigkeits- und Theaterabende arrangierten, deren Erlös der Grundstock zur Errichtung des Suhler Krankenhauses wurde.

Im "Schirmerhaus" kamen viele Suhler zur Welt

Dr. Jung suchte dringend einen Assistenzarzt, der sich auf eine Zeitungsannonce hin auch meldete. Es war der spätere Sanitätsrat Dr. med. Karl Michels, der die Tochter des Hauses, Ida Jung, heiratete. Dr. Michels baute auf dem Grund seines Schwiegervaters in der Gothaer Straße das jetzige Backsteinhaus Nummer 16. Beide Ärzte arbeiteten Mitte bis Ende der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts zusammen im Krankenhaus der Stadt.
"Vielen Suhler Bürgern", berichtet Dr. med. Rainer Rockenstein, "ist Sanitätsrat Dr. Michels noch bekannt. In Erinnerung geblieben ist ihnen vor allem, daß er die Hausbesuche mit dem Reitpferd gemacht hatte." Zusätzlich sei er auch Gefängnis- und Bahnarzt gewesen. Letzteres habe ihm die Möglichkeit eröffnet, nach dem Eisenbahnbau mit jeder Lokomotive mitzufahren. In Notfällen stellte die damalige Eisenbahn auch eine Draisine zur Verfügung. In einem solchen Fall nahm er sein Fahrrad mit und fuhr mit der Bahn bis zum weit entlegensten Ort Richtung Meiningen. Von dort aus ging es mit dem Rad wieder zurück gen Suhl, wobei er unterwegs die anfallenden Hausbesuche erledigte.
Wieder als Unterstützung für die Praxis kam 1910 ein neuer Assistenzarzt nach Suhl – Dr. med. Robert Schirmer. Auch er war noch vielen Bürgern der Stadt bekannt. Und es leben noch viele Suhler, die Dr. Schirmer mit auf die Welt gebracht hat, denn die Ärzte früher waren Praktischer Arzt, Chirurg und Geburtshelfer in einem. Auch er heiratete die Tochter des Hauses, Lucie Michels, die später bei ambulanten Operationen die Äthernarkose in der Praxis durchführte. Das war zunächst in der Bahnhofstraße 14 und anschließend in der Bahnhofstraße 15 – im Volksmund auch "Schirmerhaus" genannt.
Dr. Schirmer verfügte neben seiner allgemeinärztlichen Ausbildung auch über fundierte chirurgische Kenntnisse und lernte die Röntgendiagnostik von den Anfängen um 1900 kennen. So kam es, daß er auch ein Röntgeninstitut betrieb und damals als einziger im Südthüringer Raum in der Lage war, auch Strahlentherapie durchzuführen. Dr. med. Rainer Rockenstein weiß noch mehr über seinen Großvater zu berichten: "Zu jener Zeit gab es ja die ersten Autos von Simson, und so mancher Suhler erinnert sich, daß er mit einem Simson Supra und seinem Chauffeur August Dittmar Hausbesuche erledigte."

Sohn ist Anwärter auf 9. Chirurgen-Generation

Nach dem Krieg praktizierte Dr. Robert Schirmer zusammen mit seinem Sohn Karl. Dieser war nach dem Studium zunächst von 1942 bis Anfang 1946 im Suhler Krankenhaus tätig gewesen und während des Krieges vorübergehend als Chefarzt eingesetzt. Nach Kriegsende war er dann in die Praxis seines Vaters eingetreten. Aus politischen Gründen hatte er später Suhl verlassen. Der jetzige Arzt in der Bahnhofstraße 15, Dr. med. Rainer Rockenstein, ist der Enkel von Dr. Robert Schirmer und der Neffe von Dr. Karl Schirmer. Fern der Heimat – da er hier keinen Studienplatz für Medizin bekommen hatte – studierte und arbeitete der 56jährige Mediziner in den alten Bundesländern. Nach der Wende hat es ihn jedoch wieder in die Heimat gezogen. Sein Sohn Andreas studiert zur Zeit in Marburg Medizin und ist somit Anwärter auf die neunte Generation in der Familie als Arzt!

Aktuell ab 1. Januar 2011 hat Dr. Rockenstein seine Praxistätigkeit beendet. Die Patienten werden jetzt von Herrn Dipl.Med. Matthias Reckel - Facharzt für Chirurgie / Unfallchirurgie - weiterhin betreut. Der Sohn, Dr.med.Andreas Rockenstein, die neunte Arztgeneration in der Familie, befindet sich in der Facharztausbildung zum Unfallchirurgen / Orthopäden im Klinikum Dortmund.